Eine Klausel für das Jüngste Gericht – Warum Gesetze dem Rechtsstaat schaden können
Es war in den letzten Jahren des letzten Jahrhunderts. Ich war Rechtsanwaltsanwärter in einer Kanzlei, die sich zu dieser Zeit vornehmlich mit dem Kauf von Unternehmen und Gesellschaften befasste. Es war die Zeit, in der die Verträge, die nach österreichischem Recht eigentlich recht kurz sein hätten können, mehrere hundert Seiten lang geworden waren, weil man sich – was Anwälte, die nach Stunden bezahlt wurden, nicht störte – US-amerikanische und britische Standards anlegte.
Nun war es so (und allzu viel hat sich da nicht geändert), dass solche Verträge in mehreren langen Verhandlungsrunden verhandelt wurden. Und immer und immer musste man sie lesen und prüfen, was sich wieder geändert hatte. Immer und immer denselben Text. Zuerst einmal zum Einlesen den ganzen Vertrag. Dann die Anmerkungen der Gegenseite. Dann – nach Einarbeitung der eigenen Anmerkungen zur Kontrolle nochmals diese. Mitunter mehrfach, weil eine Änderung an einer Stelle Änderungen an anderen Stellen bedingt. Dann die Anmerkungen des Klienten. Dann wieder die der Gegenseite. Und immer so weiter.
Bis am Ende irgend jemand beschloss, es wäre genug und man könnte das Werk unterschreiben. Also nochmals lesen um sicherzustellen, dass die Endfassung jetzt wirklich passt (oft mit dem Ergebnis, dass das nicht der Fall war und man noch eine Runde drehen musste) und dann nochmals sich anhören, wie der dann schon etwas unliebsame Vertrag vom Notar verlesen wurde.
Jetzt sollte man glauben, dass dabei der perfekte Vertrag entstanden ist. Das Gegenteil war oft der Fall. Mit Sicherheit konnte man den Vertrag aufschlagen und sofort einen Tippfehler entdecken. Oder Gravierenderes. Was die Anwälte freute, gab es dann doch mitunter Grund, darüber zu streiten, was diese oder jene verkorkste Bestimmung nun eigentlich bedeuten sollte.
Aber davon will ich jetzt gar nicht erzählen.
Eines Tages hatte ich wieder einen Vertrag über den Kauf eines großen Unternehmens in Händen. Unterschrieben drei Jahre zuvor, gebunden als dickes Buch in schwarzem Leder, mit goldenen Lettern am Einband. Ein „Binder“ wie die, mit denen jeder schicke Transaktionsanwalt ein Regal hinter seinem Schreibtisch füllte.
Und – eher zufällig – schlug ich eine Seite in einem Kapitel des Vertrages auf, das man praktisch nie genauer ansieht, weil es in jedem solcher Verträge enthalten war und zwar mit im Grunde immer gleichem Inhalt so dass man glaubte, wenn man nur die Überschrift liest, würde man schon den Inhalt kennen.
Und ich hätte fast weitergeblättert, wäre mir nicht zufällig etwas ins Auge gesprungen, das da irgendwie überhaupt nicht passte.
Und so las ich die ganze Klausel, die (in schönstem und bestem britischem Vertragsenglisch der alten Schule) in etwa wie folgt lautete:
„Im Falle des Eintritts der Einberufung des JÜNGSTEN GERICHTS (wie definiert in Mt 25,31-46) ist der VERKÄUFER berechtigt, die ANTEILE vom KÄUFER zurückzufordern unter den aufschiebenden Bedingungen, die gemeinsam eintreten müssen, dass (i) SATANAS und seine Engel (wie definiert in Offb 20,7-10) von den Heerscharen des Himmels tatsächlich besiegt werden, (ii) dem VERKÄUFER die ANTEILE vom JÜNGSTEN GERICHT rechtskräftig und vollstreckbar zugesprochen werden und (iii) der KAUFPREIS, abzüglich Steuern, Transaktionsspesen und den Kosten des TREUHÄNDERS bei diesem zur Auszahlung an den KÄUFER erlegt werden. Die Rückabwicklung ist binnen 14 BANKARBEITSTAGEN ab Eintritt dieser Bedingungen vorzunehmen. Streitigkeiten aus dieser Klausel entscheidet bindend und unanfechtbar auf Antrag einer der PARTEIEN ein dreiköpfiges Schiedsgericht unter Vorsitz des Erzengels Michael, der auch die anderen Richter bestimmt; den PARTEIEN steht kein Vorschlagsrecht zu.“
Als ich herzhaft zu lachen aufgehört hatte, begann ich zu recherchieren. Und es stellte sich heraus, dass ein Londoner Anwalt, der an den Vertragsverhandlungen beteiligt war, offenbar nicht zum ersten Mal in einer späten Phase der Vertragsverhandlungen, nur um zu testen, ob die Gegenseite den Vertrag noch liest, diese Klausel eingefügt hatte. Und ganz offensichtlich hatte die Gegenseite in diesem Fall den Test nicht bestanden.
Nun ist es in diesen Tagen so, dass selbst Juristen die sich ständig ändernden rechtlichen Rahmenbedingungen nicht mehr lesen wollen. Alle paar Tage ändern sich Gesetze und Verordnungen, die in der Eile so geschrieben sind, dass die auch für Juristen kaum lesbar sind. Manchmal, so scheint es, nicht einmal für die, die die Texte schreiben.
Ein besonders schöner Beleg dafür aus einer aktuellen Verordnung für den Weihnachtsabend: „Abweichend von § 13 Abs. 3 Z 10 sind Zusammenkünfte von nicht mehr als zehn Personen aus höchstens zehn Haushalten zulässig.“
Was Menschen tun, wenn sie rechtliche Bedingungen nicht (mehr) lesen wollen ist seit jeher dasselbe – sie tun es einfach nicht. Wobei sogar schon eine vereinfachende Aufbereitung über Pressekonferenzen nicht mehr hilft. Was aber geschieht, wenn Bürger Gesetze nicht mehr lesen? Sie halten sich nicht daran. Oder nur zufällig oder auf Druck (der Exekutive, die aber trotz besten Bemühens die Gesetze wohl bald auch nicht mehr genau liest).
Damit ist dem Rechtsstaat ein Bärendienst erwiesen.
Besser würde man die Gesetze nach dem Vorbild des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 1. Juni 1811 wieder nicht allzu detailliert gestalten. Besser, ein Gesetz kann länger unverändert bestehen bleiben und wird gelesen und befolgt, auch wenn es manchmal Interpretationsspielräume bietet, als es wird nicht mehr gelesen.
Die aktuell Gesetzgebung ist ein (vielleicht auch unbeabsichtigter) Test. Wie sehr sich Menschen vom Gesetz entfremden und sich stattdessen von Pressekonferenzen, Pressemitteilungen und Webseiten steuern lassen. Und den sollten wir bestehen. Auch wenn es nicht leicht fällt.