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die Brücke in Tangar

Die Brücke in Tanger oder Das Gesetz und die Eigenverantwortung

Es ist schon einige Jahre her (noch unter der Regentschaft von Hassan II., als der Norden Marokkos sehr vernachlässigt wurde) und es war in Tanger, einer Stadt, die damals recht heruntergekommen war, bevölkert von armen Zuwanderern aus dem Umland.  Zwischen dem Tschad und Libyen herrschte Krieg und auch der erste Golfkrieg, der zu dieser Zeit geführt wurde, hatte Einfluss auf die Stimmung in der Stadt.

Die Existenz einer Exekutive war in der Stadt kaum spürbar. An allen Ecken lauerte für einen 15-jährigen Schüler wie mich, der mit dem Rucksack reiste, Gefahr. Taschendiebe und Trickdiebe, Betrüger und noch unangenehmere Gesellen trieben laufend und unverhohlen ihr Unwesen. Aber ich lernte rasch damit umzugehen, ich lernte, dass sich hier vieles anders verhielt als im (verhältnismäßig) gesetzestreuen Österreich. Und dass man eben jede Situation selber beurteilen musste, ohne Vertrauen darauf, dass einen die Staatsgewalt schon beschützen würde.

Und so kam ich an eine Brücke. Die Brücke war schon vor einiger Zeit zum Teil eingebrochen, nur auf der linken Seite war noch ein Streifen, den man zu Fuß benutzen konnte. Niemand hatte ein Warnschild, eine Absperrung oder Ähnliches angebracht. Nichts, was daran hinderte, hinunterzufallen, nichts, was einen auf die Gefahr hinwies oder dazu anleitete, sie zu vermeiden.

Als ich sah, dass ein Einheimischer bekleidet mit der traditionellen Djellaba die Brücke zu Fuß – vorsichtig aber doch – überquerte, erlaubte ich mir auch, sie zu benützen. Schritt für Schritt und eben vorsichtig um nicht hinunterzufallen. Aber doch.

Am Ende der Brücke traf ich auf einen US-Amerikaner, der mich ansprach. Er war offenbar schon länger in der Stadt und das, was er wissen wollte, konnte ich ihm ohnehin nicht beantworten. Aber als ich ihn auf die Brücke ansprach, wurde mir klar, dass hier kein Behördenversagen vorlag oder dass das irgendwie ungewöhnlich wäre. Es sei hier eben so, wenn eine Brücke schadhaft ist, müsse eben jeder selber wissen, ob es gescheit ist, sie zu benützen, ganz einfach. Und weil sich niemand darauf verlasse, dass eine Brücke sicher ist, oder gesperrt würde, wenn sie es nicht ist, und daher vorsichtig sei, passiere auch nie etwas.

Zurück in Österreich habe ich schon damals bemerkt, wie sehr die Menschen in Europa verlernt haben, dem eigenen Urteil zu vertrauen. Dort, wo es gesetzliche Regelungen gibt oder geben könnte.  Solange man sich im „grünen“ Bereich aufhält, tut man was einem gefällt. Und damit verschiebt sich die gefühlte Verantwortung vom Einzelnen auf den Gesetzgeber. Zu wenige überlegen, ob das, was er/sie gerade tut, und Spaß macht und/oder Gewinn oder andere Vorteile verspricht, auch wirklich weise, nachhaltig, verantwortlich ist. Und/oder moralisch vertretbar. Ob er das, was er/sie tut unter Abwägung aller dieser Umstände auch wirklich will.

Gerade in den aktuellen Umständen wird vielen einiges einfallen, was er oder sie vor allem im Rahmen des verfassungsgesetzlich geschützten Privatlebens alles tun kann. Und das „die Zahlen“ nach oben treiben könnte. Oder was er/sie zur Erlangung staatlicher Unterstützungen anstellen könnte, ohne, dass diese Hilfen eigentlich für ihn/sie gedacht sind. Alles ganz legal.

Und deshalb gibt es auch eine gesellschaftliche Verantwortung, aber auch ein Qualitätsmerkmal von jedem, der von sich behaupten darf, sich mit dem Recht auszukennen: Die Verantwortung, nicht nur zu erläutern, was rechtlich möglich ist, sondern den Betreffenden dazu anzuleiten, sein Handeln losgelöst von der rechtlichen Zulässigkeit eigenverantwortlich im eigenen und allgemeinen Interesse zu hinterfragen.

Es ist nämlich sehr verlockend, etwas zu tun, nur weil man einen Weg gefunden hat zu begründen, dass man es darf. So, dass man leicht vergisst, dass es einem selbst und auch anderen vielleicht schadet.