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Haben Passagiere das Recht auf die kostenlose Mitnahme von Handgepäck?

Haben Passagiere das Recht auf die kostenlose Mitnahme von Handgepäck?

Derzeit gehen Verbraucherschutzorganisationen in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die Gepäcksbestimmungen von Airlines vor. Damit soll jedem Fluggast die kostenlose Mitnahme von Handgepäck, unabhängig von der gebuchten Ticketkategorie, garantiert werden.

Der vorliegende Artikel soll einen Überblick über die relevanten Rechtsgrundlagen bieten und der Frage nachgehen, ob die Argumentation der Verbraucherschutzorganisationen nachvollziehbar ist.

Die Ausgangslage

Derzeit bieten einige Airlines, vor allem die sogenannten „Billigairlines“, regelmäßig drei verschiedene Ticketkategorien an, die im Zusammenhang mit Reisegepäck Folgendes vorsehen:

  • Billigste Kategorie: nur ein „persönlicher Gegenstand“ darf mitgenommen werden. Hierunter wird eine Tasche oder ein Rucksack verstanden, der unter den Vordersitz passt und oft die folgenden Maße nicht überschreiten darf: 40x30x20.
  • Mittlere Kategorie: ein persönlicher Gegenstand und ein Handgepäckstück dürfen mitgenommen werden. Unter „Handgepäck“ wird ein Koffer oder eine Tasche verstanden, die in das Gepäckfach über dem Sitz passt und oft die folgenden Maße nicht überschreiten darf: 55x40x20.
  • Teuerste Kategorie: ein persönlicher Gegenstand und ein Aufgabegepäckstück dürfen mitgenommen werden. Unter „Aufgabegepäck“ wird ein Gepäckstück verstanden, das im Frachtraum des Flugzeuges verstaut wird und oft die folgenden Maße nicht überschreiten darf: 80x120x120.

Verbraucherschutzorganisationen versuchen nun durchzusetzen, dass jeder Passagier ein Handgepäckstück ohne Zahlung eines Aufpreises mitnehmen darf. Sie stützen sich in ihrer Argumentation insbesondere auf die Artikel 22 und 23 der Verordnung (EG) 1008/2008 („VO 1008/2008“) und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus dem Jahr 2014 (Rechtssache C-487/12).

Was besagt die VO 1008/2008?

Diese Verordnung regelt generell die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der EU, also etwa die erforderlichen Betriebsgenehmigungen und den Zugang zu Strecken. Diese Verordnung enthält allerdings auch Regelungen im Zusammenhang mit der Festsetzung von Ticketpreisen – und um genau diese Preisfestsetzung geht es in den nun relevanten Artikeln 22 und 23.

Artikel 22 der VO 1008/2008 enthält die grundlegende Bestimmung, dass Luftfahrtunternehmen ihre Flugpreise und Frachtraten frei festlegen dürfen. Dies erscheint heutzutage selbstverständlich, bis zur Liberalisierung des Luftverkehrs in der EU ab den 1980er Jahren wurden Preise allerdings streng reguliert und mussten staatlich genehmigt werden. Erst die Liberalisierung und damit die Möglichkeit der Airlines, ihre Preispolitik frei zu gestalten, ermöglichte einen zunehmenden Wettbewerb und damit eine Reduktion der Ticketpreise. Erst dadurch wurden Flugreisen auch für Durchschnittsverbraucher leistbar.

Artikel 23 der VO 1008/2008 legt als eine Art Gegengewicht zu dieser Preisfreiheit fest, dass die Endpreise für Flugdienste stets klar auszuweisen sind. Dabei müssen die Endpreise den Flugpreis sowie alle anwendbaren Steuern und Gebühren, Zuschläge und Entgelte, die unvermeidbar und vorhersehbar sind, einschließen. Nicht im Endpreis enthaltene Kosten werden als „fakultative Zusatzkosten“ bezeichnet und müssen auf klare, transparente und eindeutige Art und Weise am Beginn jedes Buchungsvorgangs mitgeteilt werden. Weiters muss deren Annahme durch den Kunden auf Opt-in-Basis erfolgen.

Inwiefern kann die VO 1008/2008 als Grundlage für die Forderungen der Verbraucherschutzorganisationen herangezogen werden?

Die Verbraucherschutzorganisationen berufen sich nun auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus dem Jahr 2014 (Rechtssache C-487/12).

Im diesbezüglichen Ausgangsverfahren hat eine Passagierin diverse Flugtickets zu einem günstigen Preis bei einer spanischen Airline erworben, musste für die Mitnahme von Aufgabegepäck allerdings eine Gebühr von EUR 10,- pro Koffer und Flug zahlen. Hierin erblickte die Passagierin einen Verstoß gegen ein spanisches Gesetz, das Airlines vorschrieb, Aufgabegepäck in einem bestimmten Ausmaß zu befördern.

Aufgrund der behaupteten Verletzung dieses Gesetzes wurde die Airline von einer spanischen Behörde zu einer Geldstrafe verurteilt, gegen die die Airline wiederum gerichtlich vorging. Die Airline argumentierte, dass das spanische Gesetz gegen europäisches Recht verstoße, da es das der Airline durch Artikel 22 der VO 1008/2008 gewährte Recht zur freien Preisfestsetzung verletze.

Die Frage der Vereinbarkeit des spanischen Gesetzes mit Artikel 22 der VO 1008/2008 wurde im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens schließlich dem EuGH vorgelegt.

In diesem Verfahren herrschte zunächst Unklarheit über die genaue Auslegung des spanischen Gesetzes. Nach der Auslegung des vorlegenden spanischen Gerichts hat die Beförderung von Aufgabegepäck nämlich ohne Aufpreis stattzufinden, während nach der Stellungnahme der spanischen Regierung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens diese Beförderung zwar zwingend stattzufinden hat, aber nicht unbedingt kostenlos ermöglicht werden muss. Der EuGH entschied sich auf Basis seiner bisherigen Rechtsprechung dazu, bei seiner Beurteilung der Rechtslage von der Auslegung des vorlegenden spanischen Gerichts auszugehen.

Wie entschied der EuGH in der Rechtssache C-487/12?

Im Rahmen dieses Verfahrens setzte sich der EuGH zur Klärung der Frage, ob die den Airlines zustehende Preisfreiheit auch die Freiheit umfasst, für die Mitnahme von Aufgabegepäck einen Zuschlag verlangen zu dürfen, näher mit den Artikeln 22 und 23 der VO 1008/2008 auseinander.

Dabei stellte der EuGH zunächst fest, dass diese Artikel auch auf die Festsetzung der Preise für die Gepäcksbeförderung anwendbar sind und behandelte sodann die Frage, ob der für die Beförderung von Aufgabegepäck zu zahlende Preis ein unvermeidbarer und vorhersehbarer Bestandteil des Preises für den Flugdienst darstellt (und damit unter den Begriff „Endpreis“ fällt) oder ob es sich um fakultative Zusatzkosten für einen Dienst handelt, der den Flugdienst ergänzt.

Unter Berücksichtigung der im Laufe der Jahre geänderten Geschäftspraktiken der Airlines – insbesondere der „Billigairlines“ – kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Kosten für Aufgabegepäck nur um fakultative Zusatzkosten handelt. Die Beförderung von Aufgabegepäck wurde somit nicht als obligatorisch oder unerlässlich für die Beförderung der Fluggäste angesehen. Damit fällt die Beförderung von Aufgabegepäck nicht unter den „Endpreis“ und die Airline hat klar das Recht, im Rahmen ihrer Preisfreiheit eine zusätzliche Gebühr für die Beförderung von Aufgabegepäck zu verlangen. Dieses Recht wurde durch das spanische Gesetz, das (nach der Auslegung des vorlegenden spanischen Gerichts) die Mitnahme von Aufgabegepäck ohne Aufpreis vorschrieb, verletzt. Die Entscheidung des EuGH fiel sohin zugunsten der betroffenen Airline aus.

Nun hat der EuGH in seiner Urteilsbegründung allerdings auch ausgeführt, dass seine Überlegungen zu Aufgabegepäck nicht auf Handgepäck übertragbar sind – nach Ansicht des EuGH ist die Mitnahme von Handgepäck sohin als unverzichtbarer Bestandteil der Beförderung von Fluggästen und daher als Teil des Endpreises anzusehen. Konkret führte der EuGH aus „dass für seine Beförderung kein Zuschlag verlangt werden darf“, sofern sein Gewicht und seine Abmessungen „vernünftigen Anforderungen“ entsprechen und die einschlägigen Sicherheitsbestimmungen erfüllen.

Genau auf diese Ausführungen stützen Verbraucherschutzorganisationen nun ihre Forderung nach einer kostenlosen Mitnahme von Handgepäck.

Unsere Ansicht

Die Argumentation der Verbraucherschutzorganisationen steht unseres Erachtens auf wackeligen Beinen und würde schlussendlich auch nicht unbedingt zu einem kundenfreundlichen Ergebnis führen.

Einerseits hat der EuGH in Rechtssache C‑487/12 selbst ausgeführt, dass nur dann kein Zuschlag für die Beförderung von Handgepäck verlangt werden darf, wenn sein Gewicht und seine Abmessungen „vernünftigen Anforderungen“ entsprechen. Dass von Airlines auch in der billigsten Kategorie erlaubt wird, einen „persönlichen Gegenstand“, also meist eine Tasche bzw. einen Rucksack, der unter den Vordersitz passt, mitzunehmen, wurde weder im Urteil des EuGH noch in der im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ergangenen Stellungnahme des Generalanwalts behandelt.

In seiner Stellungnahme führt der Generalanwalt im Prinzip zwei Gründe dafür an, dass die Mitnahme von Handgepäck im Ticketpreis inkludiert sein muss: zum einen unterliege das Handgepäck im Unterschied zum Aufgabegepäck der alleinigen Verantwortung des Passagiers und erzeuge bei der Airline keine Kosten für Aufgabe, Ablaufverfolgung und Lagerung und zum anderen gehöre die Möglichkeit, persönliche Gegenstände, die man als sehr wertvoll und absolut unerlässlich ansieht, unter eigener Aufsicht mit sich zu führen, zur Würde des Menschen.

Der erstgenannte Grund kann unseres Erachtens nicht überzeugen, wenn man sich den Umstand vor Augen führt, dass die für Kurzstreckenflüge in Europa am häufigsten eingesetzten Flugzeugtypen, der Airbus A320 und die Boeing 737, je nach Variante und Konfiguration mit etwa 130 bis 200 Sitzplätzen ausgestattet sind, aber nur mit Platz für etwa 90 bis 110 Handgepäckskoffer. Dies führt in der Praxis dazu, dass heutzutage bei zahlreichen Kurzstreckenflügen Passagiere aufgefordert werden müssen, ihre Handgepäckskoffer kostenlos aufzugeben, wodurch diese im Gepäcksraum des Flugzeuges befördert werden. Durch diese Praxis befinden sich im Endeffekt wieder zahlreiche Handgepäckskoffer in der Verantwortung der Airline und es entstehen diverse Kosten (auch wenn die Airline diese in der Regel nicht an den betroffenen Passagier weitergibt).

Der zweitgenannte Grund ist unseres Erachtens schon vor dem Hintergrund nicht belastbar, dass selbst in der billigsten Kategorie die Mitnahme eines persönlichen Gegenstandes erlaubt wird. Es wird wohl mit der „Würde des Menschen“ vereinbar sein, die besonders wertvollen persönlichen Gegenstände auf ein Ausmaß zu beschränken, dass diese in ein derartiges Gepäckstück passen. Weiters wird es für Airlines schon aufgrund der zuvor erwähnten Diskrepanz zwischen den verfügbaren Sitzplätzen und dem Platz für Handgepäckskoffer faktisch schlichtweg nicht möglich sein, jedem Passagier die Mitnahme eines persönlichen Gegenstandes an Bord zu gestatten.

Andererseits ist unseres Erachtens der angestrebte Erfolg – die Verpflichtung, Handgepäck ohne Aufpreis zu befördern bzw. das Verbot, Ticketkategorien anzubieten, die die Mitnahme von Handgepäck nicht umfassen – nicht mit den Zielen der Artikel 22 und 23 der VO 1008/2008 vereinbar. Wie der Generalanwalt in seiner Stellungnahme mehrfach betont, wurde Artikel 23 eingeführt, um die in Artikel 22 normierte Preisfreiheit mit einer Verpflichtung zur Klarheit zu verbinden, damit der Flugpreis vom Nutzer bei einem Vergleich der konkurrierenden Angebote genau beurteilt werden kann. Eine solche Klarheit ist auch durchaus wünschenswert – und im Übrigen auch durch andere Bestimmungen, etwa im Bereich der Allgemeinen Beförderungsbedingungen – abgesichert. Wenn eine Airline potenzielle Passagiere nun aber im Buchungsprozess klar und deutlich darüber informiert, welche verschiedenen Ticketkategorien es gibt und welche Rechte mit welcher Ticketkategorie verbunden sind, ist kein Grund erkennbar, sie derart in ihrer Unternehmensführung einzuschränken.

Abschließend sei noch infrage gestellt, ob das von den Verbraucherschutzorganisationen angestrebte Ergebnis – die verpflichtende kostenlose Mitnahme von Handgepäck – überhaupt verbraucherfreundlich wäre. Es erscheint naheliegend, dass sich die durch eine solche Verpflichtung hauptsächlich betroffenen „Billigairlines“ dazu gezwungen sehen könnten, die günstigste Ticketkategorie schlichtweg zu streichen, anstatt Passagieren nun zu erlauben, auch bei Erwerb eines solchen Tickets Handgepäck mitzunehmen. Die zahlreichen Passagiere, die diese Ticketkategorie derzeit in Anspruch nehmen, weil sie der Ansicht sind, dass ein „persönlicher Gegenstand“ für ihre Reise ausreicht, wären somit gezwungen, höhere Ticketkosten zu bezahlen.

Wenn sich einige von ihnen nun dafür entscheiden, statt oder zusätzlich zu einem persönlichen Gegenstand auch einen Handgepäckskoffer mitzunehmen – da dieser nun ja im Preis inkludiert ist – führt dies überdies zu einem höheren Gewicht des Flugzeuges und dadurch zu mehr Treibstoffverbrauch, was sowohl der Umwelt schadet als auch einen relevanten Kostenfaktor für die Airlines darstellt. Auch die Kosten, die durch den zusätzlichen Aufwand der Airlines in Verbindung mit Handgepäck, das wegen Platzmangels nicht in der Kabine befördert werden kann, entstehen, lassen befürchten, dass die Bemühungen der Verbraucherschutzorganisationen letztlich zu höheren Ticketpreisen für alle Passagiere führen könnten.

Für Fragen im Zusammenhang mit der kostenlosen Mitnahme von Handgepäck steht Ihnen unser erfahrenes Aviation Team gerne zur Verfügung.

Zur bestätigten Buchung und dem Anwendungsbereich der Fluggastrechte-Verordnung

Der EuGH zu bestätigten Buchungen und reduzierten Tarifen

In seiner Entscheidung vom 6. März 2025 (Rs. C-20/24) befasst sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit zwei wesentlichen Fragen zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 („Fluggastrechte-Verordnung“).

Erstens ging es um die Frage, ob eine Bordkarte, die keine Angaben zu Abflug- und Ankunftszeit enthält, dennoch als „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 2 lit. g der Verordnung angesehen werden kann. Zweitens musste der EuGH klären, ob Fluggäste, die zu einem kostenlosen oder reduzierten Tarif reisen, grundsätzlich vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen sind.

Der EuGH stellte fest, dass eine Bordkarte einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 lit. g der Fluggastrechte-Verordnung darstellen kann, aus dem hervorgeht, dass die Buchung vom Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen akzeptiert oder registriert wurde. Ein Fluggast, der eine solche Bordkarte besitzt, kann daher grundsätzlich eine bestätigte Buchung vorweisen, sofern das Luftfahrtunternehmen nicht nachweist, dass besondere, außergewöhnliche Umstände vorliegen, die dieser Annahme entgegenstehen.

Bezüglich der Ausnahme für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, entschied der EuGH, dass diese Ausnahme nicht greift, wenn der Fluggast den Flugpreis an das Reiseunternehmen zu marktüblichen Bedingungen entrichtet hat. Dies gilt auch dann, wenn der Preis der Pauschalreise nicht vom Fluggast selbst, sondern von einem Dritten an das Reiseunternehmen gezahlt wurde. Nach dem Urteil obliegt es dem Luftfahrtunternehmen nach den nationalen Beweisregeln nachzuweisen, dass der Fluggast tatsächlich unentgeltlich oder zu einem reduzierten Tarif befördert wurde, der der Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar zugänglich war.

Für Fragen im Zusammenhang mit bestätigten Buchungen und reduzierten Tarifen sowie generell zu Passenger Claims in Österreich steht Ihnen unser erfahrenes Aviation Team gerne zur Verfügung.

EuGH Judikatur 2024

EuGH Judikatur 2024 zu außergewöhnlichen Umständen

Der EuGH hatte sich auch im Jahr 2024 mit außergewöhnlichen Umständen iSd Art 5 Abs 3 Fluggastrechte-VO zu befassen. Es ging hierbei insbesondere um die Fragen, ob bestimmte Konstruktionsfehler oder ein Personalmangel bei der Gepäckverladung als außergewöhnlich einzustufen wären.

Konstruktionsfehler

Wie bereits im Fall Wallentin-Hermann (C-549/07) entschieden, können versteckte Fabrikationsfehler außergewöhnliche Umstände darstellen. 2024 hatte der EuGH zwei Fälle zu Konstruktionsfehlern zu beurteilen:

  • C-385/23: Ein Konstruktionsfehler in der Treibstoffanzeige eines neuartigen Flugzeugmodells.
  • C-411/23: Ein Konstruktionsfehler am Triebwerk, der dem Luftfahrtunternehmen bereits Monate vor der Störung mitgeteilt worden war.

In beiden Rechtssachen kam der EuGH zu dem Schluss, dass es sich bei den vorliegenden Konstruktionsfehlern um außergewöhnliche Umstände handelt. Konstruktionsfehler seien nämlich nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens, wenn der Hersteller des Fluggeräts nach Inbetriebnahme entdeckt, dass diese einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt. Zudem sei ein solcher Fehler von einem Luftfahrtunternehmen auch nicht beherrschbar.

Besonders im Fall C-411/23 stellte der EuGH klar, dass es unerheblich ist, wann das Luftfahrtunternehmen von dem Fehler Kenntnis erhält, sofern der Fehler zum Zeitpunkt der Annullierung bereits vorlag und das Luftfahrtunternehmen ihn nicht kontrollieren konnte.

Personalmangel bei der Gepäckverladung

In der Rs. Touristic Aviation Services (C-405/23) ging es um die Frage, ob es sich bei einem Personalmangel des Flughafenbetreibers bei der Gepäckverladung um einen außergewöhnlichen Umstand handle.

Dabei griff der EuGH auf die Grundsätze aus dem Fall SATA (C-308/21) zurück, der sich mit dem Ausfall des Betankungssystems eines Flughafenbetreibers befasste. Der Gerichtshof argumentierte, dass eine Beherrschbarkeit des Ereignisses ausgeschlossen ist, wenn das Luftfahrtunternehmen keine Kontrolle über den Flughafenbetreiber hat.

Zudem äußerte sich der EuGH zu zumutbaren Maßnahmen: In solchen Fällen könne es zumutbar sein, vorbeugend auf Dienste eines alternativen Dienstleisters zurückzugreifen, um den Flugbetrieb sicherzustellen.

Für Fragen zur EuGH Judikatur 2024 zu außergewöhnlichen Umständen sowie generell zu Passenger Claims in Österreich steht Ihnen unser erfahrenes Aviation Team gerne zur Verfügung.

KFZ Wirtschaft

Recht praktisch: EuGH spricht ein Machtwort

Urlaubsersatzleistung

Heute widmen wir uns einem Thema, das einige Arbeitsverhältnisse betreffen könnte: die Urlaubsersatzleistung im Falle eines ungerechtfertigten Austritts. Grund hierfür ist eine Entscheidung des EuGH, die nach Anrufung durch den österreichischen OGH ergangen ist und dazu führen könnte, dass sich nun einige Arbeitgeber mit Ansprüchen ehemaliger Arbeitnehmer*innen konfrontiert sehen. Dem EuGH zufolge steht unselbstständig Beschäftigten nämlich auch im Falle eines ungerechtfertigten Austritts eine Urlaubsersatzleistung zu und der österreichische §10 Abs2 Urlaubsgesetz, der explizit etwas anderes festlegt, ist unionsrechtswidrig und darf daher nicht angewendet werden.

Zunächst zu den Basics:

Arbeitsverhältnisse können grundsätzlich ohne Grund mit Einhaltung von Fristen gekündigt werden. Wenn sich ein Vertragspartner allerdings so verhält, dass es für den anderen nicht mehr zumutbar ist, das Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten, kann auch eine Beendigung mit sofortiger Wirkung stattfinden. Das nennt sich dann Entlassung bzw. Austritt, je nachdem, wer den Schlussstrich zieht. Ob das gerechtfertigt ist, hat ein Gericht zu entscheiden.

Je nach Art der Beendigung stehen den Vertragspartnern unterschiedliche Ansprüche zu. Die Urlaubsersatzleistung ist hierbei die finanzielle Entschädigung, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für nicht verbrauchte Urlaubstage zu bezahlen hat. Nach §10 Abs2 Urlaubsgesetz steht einem Arbeitnehmer allerdings dann keine Urlaubsersatzleistung zu, wenn er das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund (also ungerechtfertigt) durch Austritt beendet hat.

Da der jährliche Urlaubsanspruch allerdings auch unionsrechtlich geregelt ist (Arbeitnehmer in der EU haben Anspruch auf zumindest vier Wochen bezahlten Urlaub) und dort ein solcher Wegfall der Urlaubsersatzleistung nicht vorgesehen ist, hat der EuGH entschieden, dass §10 Abs2 Urlaubsgesetz dem Unionsrecht widerspricht. Die Konsequenz ist, dass diese Vorschrift nicht mehr angewendet werden darf und daher Arbeitnehmer eine Urlaubsersatzleistung (Basis vier Wochen pro Jahr) auch dann verlangen können, wenn sie ihr Arbeitsverhältnis durch ungerechtfertigten Austritt beendet haben.

Zur Ausgabe der KFZwirtschaft geht es hier.

Beginn des besonderen Kündigungsschutzes bei begünstigten Behinderten

Beginn des besonderen Kündigungsschutzes bei begünstigten Behinderten (9 ObA 80/21m)

In seinem Urteil vom 28.7.2021 (9 ObA 80/21m) hatte sich der Oberste Gerichtshof mit folgender Frage auseinanderzusetzen: Sind die besonderen Kündigungsschutzbestimmungen für begünstigte Behinderte auch dann zu beachten, wenn der Antrag auf Zuerkennung der Behinderteneigenschaft erst kurz nach der Kündigung aber noch am selben Tag gestellt wird?

Die für viele doch etwas überraschende Antwort: Ja, die Kündigungsbestimmungen sind zu beachten.

Und diese Antwort hat durchaus praktische Folgen. Arbeitnehmer, die möglicherweise zum Kreis der begünstigten Behinderten gehören, aber noch keine diesbezügliche Feststellung erwirkt haben, können damit nämlich auch nach der Kündigung durch die Arbeitgeberin einen entsprechenden Antrag stellen, um so eine Weiterbeschäftigung zu erreichen. Aus Arbeitgebersicht besteht somit generell bei möglicherweise begünstigt behinderten Arbeitnehmerinnen eine nicht unmaßgebliche Unsicherheit, ob eine ausgesprochene Kündigung tatsächlich wirksam ist.

Zur besseren Einordnung dieser Entscheidung möchten wir in der Folge kurz die Rechtslage im Zusammenhang mit der Kündigung von begünstigt behinderten Arbeitnehmern darstellen:

Besonderer Kündigungsschutz

Grundsätzlich können Arbeitsverhältnisse nach österreichischem Recht (anders als etwa in Deutschland) grundlos und ohne Involvierung externer Stellen gekündigt werden. Dass eine erfolgreiche Kündigung in der Praxis vor allem aufgrund der Möglichkeit der „Anfechtung wegen Sozialwidrigkeit“ oft trotzdem gar nicht so einfach ist, wissen viele Arbeitgeber aus Erfahrung.

Handelt es sich bei dem betroffenen Arbeitnehmer allerdings um einen begünstigten Behinderten, ist es unter Umständen erforderlich, dass die Arbeitgeberin vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Behindertenausschusses einholt. Ohne diese Zustimmung ausgesprochene Kündigungen sind nicht nur anfechtbar, sondern rechtsunwirksam.

Fälle, in denen die Zustimmung des Behindertenausschusses eingeholt werden muss

Bei bis zum 31.12.2010 abgeschlossenen Arbeitsverhältnissen ist die Rechtslage noch recht einfach: von Ausnahmefällen abgesehen, ist die Zustimmung des Behindertenausschusses vor Ausspruch einer Kündigung stets einzuholen, wenn das Arbeitsverhältnis zumindest 6 Monate gedauert hat.

Bei seit 1.1.2011 abgeschlossenen Arbeitsverhältnissen ist die Rechtslage schon etwas komplizierter:

Wenn die Behinderteneigenschaft bereits zu Beginn des Arbeitsverhältnisses festgestellt war, muss die Zustimmung des Behindertenausschusses erst eingeholt werden, wenn das Arbeitsverhältnis zumindest 4 Jahre gedauert hat.

Wenn die Behinderteneigenschaft erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses festgestellt wird, ist eine Zustimmung des Behindertenausschusses erforderlich, es sei denn die Kündigung wird innerhalb der ersten 6 Monate des Arbeitsverhältnisses ausgesprochen. Hier gibt es wiederum eine Ausnahme von der Ausnahme: wenn die Behinderteneigenschaft aufgrund eines Arbeitsunfalls festgestellt wurde, kommt diese Frist von 6 Monaten nicht zur Anwendung, die Arbeitnehmerin ist also bereits früher geschützt.

Übrigens kann in Ausnahmefällen die Zustimmung des Behindertenausschusses (unabhängig vom Beginn des Arbeitsverhältnisses) auch nach Ausspruch der Kündigung eingeholt werden, und zwar wenn der Arbeitgeber zum Zeitpunkt des Ausspruches nicht wusste und auch nicht wissen musste, dass die Arbeitnehmerin zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gehört.

Beginn des besonderen Kündigungsschutzes

Die Zuerkennung des Status als begünstigter Behinderter erfolgt durch die zuständige Landesstelle des Sozialministeriumservice per Feststellungsbescheid. Wirksam wird die Zuerkennung aber nicht erst mit Ausstellung des Bescheids, sondern rückwirkend mit dem Tag des Einlangens des Antrags. Und zwar mit Beginn dieses Tages, wie wir seit 9 ObA 80/21m wissen.